Klaras Lebenswelten - Auf einem Stern sitzt meine Tochter und winkt mir zu.

Auf einem Stern, sitzt meine Tochter Daniele und winkt mir zu

Es war eine Nacht wie viele andere Nächte. 

Ich schlief und im Kinderzimmer schlief Daniele. Mich weckte ihr weinen. "Ihr Nuckel ist weg", wie so oft. Ich ging hinüber zu ihr. Sie stand im Kinderbett und weinte. Ich suchte ihren Nuckel und wollte ihn ihr geben. Sie wollte ihn nicht und sie weinte herzzerreißend. Was war nur los, heute. Noch ehe ich diesen Gedanken zu Ende denken konnte kippte sie um. Sie sank in sich zusammen, wie eine Puppe aus Gummi. Ich nahm sie in den Arm und sprach sie an, hörte nach ihrem Atem.

 

Stille. Wahnsinnige Stille.

 

 

Flache Atmung und leiser Herzschlag. Sie war ohnmächtig. Aber warum. Irgendwas war anders.

 

Was sollte ich tun? Kein Telefon? Ich konnte nur Schreien. Meine Gedanken überschlugen sich. Hilfe, ich brauchte sofort Hilfe.  HILFE ...

Ich öffnete das Fenster. Das Licht vom Kino leuchtet, wie jeden Abend, herauf. Die Straßenlaterne gab der Straße ihr Licht. Niemand da, der schnell zur Telefonzelle gehen konnte. Niemand da, der im Haus meinen Hilferuf hörte. Ich war so furchtbar hilflos und allein. 

 

Meine Schreie hallten durch die Nacht.

 

Ich stand am Fenster, es war bitter kalt, die Kälte kroch an mir hoch, doch es war mir egal. Ich hatte Angst um mein Kind. Ich schrie in die Nacht, in der Hoffnung es hörte mich jemand. Was sollte ich tun? Ich war allein. Die Telefonzelle war am Kaufhaus, 10 min entfernt.  Ich wusste im Haus gegenüber wohnte ein Polizist. Er hatte Telefon und ich hoffte er würde meine Schreien hören. 

Doch mein Kind. Hilfe. Ein tiefer, heiserer, komischer Atemzug. Dann lief ihr Urin meinen Körper entlang. Ich wusste, was das hieß. Ich schrie in die Nacht. HILFE MEIN KIND STIRBT... HILFE MEIN KIND IST TOT ...

 

Dann ging alles sehr schnell. Der Polizist hatte mich gehört. Seine Frau kam gelaufen. Der Notarztwagen hielt vor dem Haus. Noch immer stand ich schreiend am Fenster. Mein Kind war tot. Ich wusste es. Jede Hilfe kam zu spät. Mein Kind war tot.

Der Notarzt nahm mir Daniele ab und die junge Frau vom Polizisten, nahm mich in den Arm und blieb bei mir im Kinderzimmer. Die Tür wurde geschlossen.

 

Mein Kind war tot.

 

Die junge Frau sprach unaufhörlich auf mich ein. Wohl auch darum, die Geräuschkulisse aus dem Nebenzimmer zu überdecken. Doch meine Ohren hörten nicht was sie sprach. Meine Ohren hörte auf die Geräusche aus dem Nebenzimmern, hörten den Defibrillator. Dann war Stille. 

Plötzlich wurde die Tür geöffnet. Zwei Männer in schwarzen langen Mänteln kamen herein, schauten sich um, schauten mich an und verließen den Raum wortlos. Sie wechselten eine paar Worte mit dem Notarzt, dann waren sie wieder verschwunden.  

Der Notarzt zog  Daniele wieder an. Er kam herüber und legte sie mir in den Arm. "Wir konnten nichts mehr für sie tun". Worte, die wie Ohrfeigen laut knallten. Worte, die in meinem Kopf hämmerten. Ich schrie. Mein totes Kind in den Armen. Nein, dass konnte nicht sein. Sie schlief doch nur. Wieder besseren Wissens jagten mich diese Gedanken. Nein, sie schlief nur.

 

Ja, sie schlief. Für immer.

 

Ich legte Daniele in ihr Bett und deckte sie sorgsam zu. Tränen hatte ich nicht mehr. 

Der Notarzt gab mir eine Beruhigungsspritze und sagte: "Sie konnten nichts tun. Gehen sie morgen zur Schwangerschaftsberatung und sorgen sie für ihr Kind und zeigte auf meinen Bauch." Dann war er weg.

 

Ich hatte furchtbare Angst. Der Polizist hatte meinen Mann auf Arbeit nicht erreichen können. Wo war er? Wann würde er nach Hause kommen? Was würde passieren, wenn er seine Tochter nicht fand? Es war mir egal. Mir war klar, er würde völlig ausrasten und ... Egal, sollte er doch richtig zuschlagen, mich totschlagen, dann hätte dieses Leben endlich ein Ende. Es würde eh niemanden wirklich interessieren. Ich könnte bei Daniele sein. Sie war alles was ich hatte, in meinem Leben und nun war sie tot. Einfach tot. 

 

Ich saß da. Wie lange weiß ich nicht. Die junge Frau war noch an meiner Seite. Stille unendliche Stille. Mein totes Kind in ihrem Bettchen.

 

Dann polterte es und zwei Männer, in schwarzen langen Mänteln, mit einem riesigem Sarg kamen herein. Ein Erwachsenen-Sarg. Oh mein Gott, was sollte denn mein Baby in diesem riesigen Sarg. Darin würde sie ja hin und herrutschen, sich stoßen. Dieser riesige Sarg war leer. Der Himmel fiel auf mich herunter. Hilfe, da rein sollte ich mein Kind legen. Niemals. Ich schrie die Beiden an. Dann holte ich eine große Kuscheldecke und kleidet damit den Sarg aus. Darauf legte ich Danieles Kopfkissen. Dann bettete ich sie hinein und deckte sie mir ihrer Decke zu. Ich gab ihr ihren Nuckel und ihre Lieblingspuppe mit. Ach ja und eine Mütze brauchte sie noch. Der Deckel wurde leise zu gemacht. Dann waren sie weg. Ein schwarzes Auto fuhr durch die Nacht. Ein Totenwagen. Er hatte mein Kind in seinem Sarg. Er hatte mein Glück in seinem Sarg. 

 

Dann war ich allein. Die junge Frau hatte sich weinend verabschiedet und war gegangen. Ich saß da, allein in der Wohnung. Das Kinderbett war leer.

 

Nachwort

Ich war 22 Jahre alt und hatte mein Kind verloren. Alles was ich hatte, war verloren. Mein Mann kam irgendwann "von der Arbeit" nach Hause. Er rastete völlig aus und... . Bis heute macht er mich für den Tod von Daniele verantwortlich. Bis heute spricht er von mir, als Mörderin seiner Tochter.

Doch in jener Nacht hatte ich keine Chance. Eine Auskunft zur genauen Todesursache besagt: Die Herzklappe, die Danieles Leben ermöglicht hatte, hatte sich geschlossen. Es war keine der normalen Herzklappen, sondern eine Notverbindung zwischen Lunge und Herz, die auf ihrem Herzkomplexfehler zurück zu führen  war. Diese kleine besondere Lebenstür hatte sich, in dieser Nacht, verschlossen. Was mir damals niemand gesagt hatte, war der Tatbestand, dass man Daniele nach 8 Monaten Klinik, zum sterben nach Hause entlassen hatte. Ihr Lebenswillen hat und noch 1,5 Jahre gegeben. Sie hat mir 27 Monate Leben mit ihr geschenkt.

  

Ich fand Menschen, die mir halfen. Das Leben ging weiter, doch es war nie mehr, wie es wahr. Es folgte ein Suizidversuch. 2 Monate später kam mein Sohn gesund zur Welt. 2 Jahre später war ich geschieden. 

Die Todesnacht meiner Tochter verfolgte mich in Ton, Bild, Geruch, Farben sowie den Gefühlen der Hilflosigkeit, Hoffnungslosigkeit und dem ausgeliefert sein. Ein Farbfilm mit allen Sinnen, bis zum IRRT in meinem 2. Intervall-Aufenthalt 2019 in der Traumaklinik. Seither hat diese Nacht ihre Macht verloren. Heute sehe ich den Farbfilm immer noch, aber es ist "nur" ein Film. 

 

Heute kann ich in Gedanken mit meiner Tochter spazieren gehen oder eine Kaffee-Zeit verbringen. Ich rede mit ihr, wenn ich in der Kirche ein Licht für sie anzünde. Heute ist mein Herz warm, wenn ich an sie denke. Heute, beginne ich langsam mir Zeit für Trauer zu nehmen. Heute lässt meine Seele wunderschöne Erinnerungen an sie frei. Erinnerungen, die ich bisher nie sah. Erinnerungen, die mir ein warmes Lächeln zaubern. Heute bin ich von Herzen dankbar, dass ich mit ihr 27 Monate verbringen durfte. Heute schicke ich ihr einen Gruß, wenn die Sterne am Himmel leuchten. Heute gefällt mir der Gedanke, dass meine Tochter, meinen Bruder (Suizid 2017) an die Hand genommen hat und bei ihm ist, damit er sich nicht allein fühlt. Heute. Heute bin ich nicht mehr ausgeliefert und hilflos.

Die Zeit heilt nicht alle Wunden. Ich lerne nur besser damit zu leben.